Wer baut, der bleibt. Neues jüdisches Leben in Deutschland by Jürgen Bertram
Autor:Jürgen Bertram [Bertram, Jürgen]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105614150
Herausgeber: FISCHER Digital
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Rostock, Augustenstraße 20. Im Kulturzentrum der Jüdischen Gemeinde probt das »Mechaje«-Theater für die Revue »Wandelnde Sterne«, mit der man in Kürze in Halle an der Saale gastiert. Es wird gesungen, gesteppt, gelacht. Von der Heiterkeit, die dieses Potpourri aus den boulevardesken Passagen des Bühnenrepertoires prägt, sind auch die Schauspieler beseelt.
Von einer Sekunde auf die andere verfinstern sich die Mienen, wirkt die eben noch vor Temperament sprühende Körpersprache wie eine traurige Zeitlupen-Pantomime. Es muss etwas Schockierendes passiert sein, auf das ich mir, da die Schauspieler auf Russisch durcheinander reden, noch keinen Reim machen kann. Ich folge der aufgeregten Schar durch das Labyrinth der Flure bis zum Büro der Jüdischen Gemeinde, wo man mich über den Grund der auch hier herrschenden Hektik aufklärt: Dem Finanzausschuss des in Kürze tagenden Stadtrates liegt ein Antrag vor, dem Theater »Mechaje« den jährlichen Zuschuss von 30000 Euro zu streichen. Da die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern ihre finanzielle Zuwendung von der Förderung durch die Kommune abhängig macht, würde dies, wie es der Spielleiter Michail Beitman-Korchagin ohne Umschweife formuliert, für die Bühne »das Ende« bedeuten.
Was sich in der nächsten Stunde in diesem Büro abspielt, könnte der Autor Juri Rosov ungekürzt als ein Drama inszenieren. Sein Titel: Ein Theater kämpft ums Überleben. Die wichtigste Requisite: das Telefon. Wer in dieser Stadt ein Mindestmaß an Einfluss besitzt und sich sein gesellschaftliches Bewusstsein bewahrt hat, wird alarmiert: die Reporterin von der Lokalzeitung gehört dazu, Abgeordnete der Parteien, die Fördervereins-Vorsitzende Manuela Balan. Auch sie bedrängt schon den ganzen Tag die Rostocker Society mit SOS-Rufen.
»Wahrscheinlich will man uns wegen des Libanon-Krieges die Mittel kürzen«, sinniert der Intendant zwischen zwei Anrufen. »Glaub’ ich nicht«, beruhige ich ihn. »Das ist eine lokale Angelegenheit. Vermutlich war irgendeinem Bürokraten die Tragweite seines Vorschlags nicht bewusst.« Und ich denke, ohne es auszusprechen: Vielleicht passt einigen in der Stadt die ganze Richtung nicht – diese ständige Gesellschaftskritik, dieser konsequente Verzicht auf situationskomischen Schabernack und Klezmer-Sentimentalität. Sie sind eben nicht »dankbar«, diese Juden …
Schon reicht der Theaterleiter das Telefon an mich weiter, den aus seiner Sicht noch immer einflussreichen früheren ARD-Korrespondenten. Ich wähle, wähle und wähle, stelle mich vor, argumentiere: Da leistet eine Exilanten-Bühne wichtige, weit über die Region hinausreichende Integrationsarbeit, kreiert ein völlig neues inhaltliches Genre, setzt dem Stammtisch-Humor deutscher Volkstheater beißenden Witz entgegen – und nun droht ihr das »Aus«, weil die Regentschaft des Rotstifts keine Differenzierung kennt. Ist doch ein Thema? Oder? Ist kein Thema. Schon gar nicht am Freitagnachmittag, wenn bereits das Segelboot oder der Tennisplatz lockt.
Zum Abschied blättere ich im Gästebuch des Theaters. »Ein wunderbarer Abend«, schreibt eine alteingesessene Bürgerin. »Wir sind Rostocker und freuen uns, dass wir in unserer Stadt ein jüdisches Theater von dieser Qualität haben.«
Wenige Tage nach meiner Rückkehr nach Hamburg erreicht mich aus Rostock eine E-Mail, aus der hervorgeht, dass sich eine Mehrheit im Finanzausschuss dafür ausgesprochen hat, das jüdische Theater auch in Zukunft zu unterstützen. »Ich möchte nicht verschweigen«, schreibt die Fördervereinsvorsitzende Manuela Balan, »dass dieses doch ein schwieriges Stück Arbeit war – aber wir sind froh, diese Hürde genommen zu haben … Nun geht der Kampf natürlich weiter.
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